Editorial der Zeitschrift „Amtstierärztlicher Dienst und Lebensmittelkontrolle“, 24. Jahrgang – 1/2017
von Dr. Holger Vogel (Präsident des BbT)
„Du bist Tierarzt, beweise es!“ (frei nach Bruno Apitz)
Liebe Leserinnen und Leser,
kann uns der Ethikkodex der Tierärztinnen und Tierärzte Deutschlands helfen, auf dem richtigen Weg zu bleiben?
Muss der/die eine oder andere oder auch wir alle erst den richtigen Weg (wieder) finden? Ist die Ernährungssicherstellung mit Lebensmitteln tierischen Ursprungs nicht schon lange erreicht? War dies überhaupt je ein rechtfertigender Grund, Entwicklungen, die dem Tierwohl zuwider laufen, zuzulassen? Haben wir als tierärztlicher Berufsstand insgesamt nicht Erkenntnisse zur Physiologie und Reproduktion, aber auch zur Therapie allzu leichtfertig aus der Hand gegeben? Werden wir grundlos einzig als Produktionsfaktor in der Nutztierhaltung und Kundendienst bei Hobbytieren gesehen? Verfallen wir zudem dem Stockholm-Syndrom in der Argumentation? Ist unsere Bewertung der Situation durch Abhängigkeiten bestimmt?
Wem sind wir als Amtstierärzte verpflichtet? Dem geltenden Recht, der fachlichen Expertise, dem eigenen Werteempfinden (Ethikkodex), der politischen Konstellation, der Einflussnahme von Lobbyverbänden, der Wirtschaft, wie sie Upton Sinclair schon um 1900 in „Der Dschungel“ beschreibt, den Zucht- und den Sportverbänden (FN), dem als Selbstverständnis zelebrierten Tierschutz, den vermeintlichen massiven globalen ökonomischen Zwängen? Findet die Schlachttieruntersuchung bei günstigen Bedingungen für die fachliche Beurteilung statt (bei der Anlieferung der Schlachttiere am Schlachtbetrieb) oder durch den Druck aus Wirtschaft und Verwaltungsapparat dann, wenn es finanziell am günstigsten ist (kurz vor der Schlachtung unter Zeitnot und ohne ausreichende Entscheidungsalternative)?
Klingt wie Pflegenotstand.
Nun, natürlich unterstehen Amtstierärzte dem geltenden Recht und haben es umzusetzen. Aber wie entsteht geltendes Recht? Bismarck (1815-1898, preußischer Ministerpräsident, Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und Reichskanzler) sagte treffend: „Wer weiß, wie Gesetze und Würste gemacht werden, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen.“ Wir haben als Amtstierärzte von beidem eine Vorstellung, leider oft mit Bismarcks beschriebener Konsequenz.
Heute handelt es sich bei Gesetzen noch immer um Kompromisstexte um des gesellschaftlichen Konsenses willen, nämlich des Konsenses zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, zwischen wissenschaftlich basierten Erkenntnissen und gefühlten Befürchtungen. Schwierig, denn der Weg liegt nicht jeweils zwingend in der Mitte. Was gelten Lebensmittelsicherheit, Tierschutz, Tiergesundheit? Es bleibt am Ende eine Frage der Definition. In der heutigen Zeit aber „ postfaktisch“?!
Verlieren wir uns, durch den materiellen Luxus an billigen Lebensmitteln ermuntert, in endlosen Kennzeichnungs- und Rechtsdefinitionen? Wird hier nicht eine Scheindebatte geführt? Wird die Bodenständigkeit von Behörden mit regionaler Verantwortung als nicht mehr zeitgemäß und provinziell zu Recht getadelt? Können Global Player alternativ die Vorort-Kontrolle in einem großen Schweinestall durch die lokale Behörde ersetzen oder wenigstens ergänzen oder wirkt das Suchen des welt- und wortgewandten Mediators nach den Manschettenknöpfen seines schicken Hemdes nach dem Duschen in großen Schweinehaltungsanlagen eher dekadent, auch vor den am Existenzminimum arbeitenden Tierpflegern vor Ort?
Da denkt man unwillkürlich an die „Qualitätskontrollen“ in Nähereien in Fernost.
Als Exekutive der Veterinary Public Health achten wir auf die Einhaltung von Rahmenbedingungen wie sie der Souverän, das Parlament, in Form von Gesetzeskraft vorgibt und die Behördenausstattung es zulässt. Bei allen Schwierigkeiten ist der One Health-Gedanke ein tragfähiger.
Herzlichst
Ihr Holger Vogel
Das Editorial ist hier im Original zu lesen.
Auf dieses Editorial reagierte die Tierschutzorganisation Animals‘ Angels mit einem Brief an alle Amtstierärzte:
Sehr geehrte Damen und Herren,
das in ,,Amtstieräztlicher Dienst und Lebensmittelkontrolle 11/2017″ veröffentlichte Editorial von Dr. Holger Vogel, dem Präsidenten des BBT, hat uns ermutigt, diesen offenen Brief an die Amtstierärzte in Deutschland zu schreiben.
Wir arbeiten seit der Gründung von Animals‘ Angels in Deutschland und international eng mit Veterinären zusammen, weil wir der Überzeugung sind: es gibt keinen Tierschutz ohne Tierärzte. Wir sind über den erneuten lebensgefährlichen Angriff auf einen Amtsveterinär in Cuxhaven sehr bestürzt und die zunehmende Gewalt gegen Amtstierärzte in Deutschland betrachten wir mit großer Sorge. Das Konfliktpotential in lhrem Arbeitsbereich eskaliert offensichtlich und die Hemmschwelle für schwere Gewalt sinkt.
So sehen wir lhre Situation:
- 2.530 Amtstierärzte vor Ort haben Garantenpflicht für den Schutz von 778.000.000 Tieren allein in der Landwirtschaft.
- Sie stehen unter dem Rechtfertigungsdruck einer Gesellschaft, die mehr Tierschutz will als die gesetzlichen Vorgaben hergeben.
- Sie sollen Tierschutz und Seuchenkontrolle gleichzeitig gewährleisten, dabei die Landwirte möglichst in Ruhe lassen und den Verbrauchern Lebensmittelsicherheit garantieren.
- Sie sind eingebunden in Hierarchien, die eigene Prioritäten mit großem Druck verfolgen und lhre Arbeit vor Ort häufig weder unterstützen noch würdigen.
- Sie scheitern immer wieder am mangelnden Engagement der Staatsanwaltschaften in Tierschutzangelegenheiten.
- Sie unterstehen letztlich dem Bundesministerium, das sich dem Wachstum der konventionellen, leistungsorientierten Landwirtschaft verschrieben hat und ihr Aufgabenbereich wird oft weder gefördert noch gewürdigt.
- Sie arbeiten unter den Gegebenheiten eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, dessen oberste Priorität der Profit ist und das den Rahmen für ethische Entscheidungen zunehmend enger gestaltet.
ln lhrem Berufsfeld gilt häufig: Je mehr Sie sich engagieren und je besser Sie versuchen lhren Verantwortlichkeiten als Kontrollbehörde gerecht zu werden, desto größere Schwierigkeiten erwarten Sie. Das kann so nicht weitergehen. Wir beobachten seit Jahren, was das psychisch und gesundheitlich mit den Amtstierärzten macht und wie es gleichzeitig immer weniger Schutz für immer mehr Tiere gibt. Wer in seinem Beruf ständig im Zentrum von lnteressenkonflikten steht und bedroht von schwerer Gewalt und mit zu wenig Ressourcen arbeiten muss, wird krank. lm Hinblick auf die Polizei wird das zunehmend thematisiert, die Tierärzteschaft hat aber offenbar keine Lobby in der Politik.
Wie lange wollen Sie, sehr geehrte Amtstierärzte und Amtstierärztinnen, das noch so mitmachen?
Wir können nicht für Sie auf die Barrikaden gehen. Das müssen Sie schon selbst tun. Herr Präsident Dr. Vogel hat einen bemerkenswerten Anfang gemacht mit seinem Editorial. Und wir unterstützen Sie gern mit den Möglichkeiten, die wir als NGO haben und senden lhnen vorerst auf jeden Fall gute Wünsche für lhre Arbeit und respektvolle Grüße!
Christa Blanke
Gründerin Animals‘ Angelslrene Weiersmüller
Projektassistenz
Der Brief der Animals‘ Angels kann hier als PDF heruntergeladen werden.